MDM-Bergsommer-Spezial 2019

5. Juli bis 21. Juli 2019, 277 Kilometer +13550 Höhenmeter in 17 Tagen

 

Teil 1: MDM 101 Europaweg und Zermatt Ultra Marathon, das Doppelevent im Wallis

Mit nur einer knappen Stunde Verspätung starten wir den gekröpften Europaweg-MDM am Freitagmorgen in St. Niklaus. Die Anfahrt ins Wallis, die auf der Montreux-Route den Genfer See touchiert, ist schon ein Erlebnis für sich. Albrecht fährt fehlerfrei, obwohl Heidi und Ich ihn erst um 3:40 Uhr aus seinem Wiehremer Nest aufgescheucht hatten. Beim Zwischenstopp in Müllheim steigt Hennes dazu. Damit ist ein passionierter Alpinist an Bord, der zielsicher jeden sichtbaren Gipfel schon einmal erklommen hat oder zumindest dessen Vor- und Nachnamen deklinieren kann. Das ist an diesem Tag von besonderem Wert, denn wir haben Kaiserwetter mit freier Fernsicht ohne eine einzige Wolke am Himmel. Wer einmal eine verregnete Höhentour im Alpensommer über neblige Felspassagen und nasse Bergwiesen bei 10 Meter Sichtweite erlebt hat, versteht meine Schönwetter-Euphorie. In den Bergen liegen die Extreme nahe beieinander.

Die Planung des MDM-Parcours war diesmal ein Theaterstück in 5 Akten. Dazu gab es mehr als 75 Beiträge in der von Albrecht gegründeten Zermatt19-WA-Gruppe. Und das bei nur 3 Läufern. Unterschiedliche Nachrichten über Streckensperrungen erforderten jeweils neue MDM-Karten. Der Europaweg Abschnitt Grächen – Europahütte wird vermutlich nicht mehr geöffnet. Im Bereich des „Großen Grabens“ bringen massive Felsstürze immer wieder alles durcheinander. Es ist der Pulsschlag eines lebendigen Berges. Wir sind die ersten 10 Kilometer im Tal nach Randa gelaufen und haben erst dort den Weg zur Europahütte eingeschlagen, die wir auf dem steilen Bergpfad zügig erreichten. Die nette Begrüßung durch die Hüttenwirtin, Frau Brantschen, sagt schon alles über den angenehmen Aufenthalt dort aus. Wir halten uns ein bis zwei Bier lang auf, bis Albrecht genug Selfies gesammelt hat, um die Welt über unsere MDM-Aktivitäten angemessen auf dem laufenden zu halten. Die Charles Kuonen Hängebrücke ist mit ihren fast 500 Metern eine große Herausforderung für meinen Glauben an die Schweizer Ingenieurskunst. Höhenangst ist irrational. Grauenhaft eindrucksvoll bieten die begangenen Gitterroste den freien Blick in 85 Meter Tiefe..

Der Europaweg in Richtung Zermatt ist zwischen Südende der Brücke und Wildibach gesperrt, soll aber am folgenden Tag wieder eröffnet werden. Wir sehen das als Aufforderung zur Erstbegehung. Immerhin sind zwei von drei Läufern mit Grundkenntnissen der Geologie und ihrer Exogenen Dynamik ausgestattet. Die Arbeiten zur Sicherung der Wege sind glücklicherweise abgeschlossen. Unser Regelverstoß bleibt unbeachtet. Es ist ein eindrucksvoller Abschnitt des Weges, der uns bis zum nächsten Verpflegungspunkt Täschalp führt. Charlotte aus dem Täschalp-Team, die auch im letzten Jahr schon hier gearbeitet hat, erkennt uns Marathonies wieder. Unser Bekanntheitsgrad steigt stetig an. Schweren Herzens verlassen wir die Täschalp und folgen dem Europaweg bis nach Tufteren, nicht ohne das Matterhorn aus den Augen zu verlieren. Selbst die Diva der Schweizer Bergwelt kleidet sich heute nicht in ihren üblichen Wolkenumhang. Der verworfene Original-Streckenplan hatte eine höhenmeter intensive Schleife hinter Zermatt bis zum Schwarzsee vorgesehen. Durch unsere spontane Eröffnung des Europaweges fehlen in Zermatt noch sieben Kilometer auf die Marathon-Distanz. Die sammeln wir in und um Zermatt dann auch noch ein und schauen uns dabei Streckenabschnitte an, die wir morgen laufen werden. Rushhour auf der Hauptstraße in Zermatt: Die halbe Welt scheint hier zum Einkaufen her zu kommen. „Back to civilization“, ein starker Kontrast zu den einsamen Höhensteigen. Das hat auch Vorteile. Der Coop-Laden hält gekühltes Bier auf einem angenehmen Preisniveau bereit. Und das in 20 Schritt Entfernung von unserem Ziel am Bahnhofsvorplatz. Dort haben wir es uns dann gemütlich gemacht. Nicole bereichert den Tag mit einer spontanen Spende von 10 Franken. Eine sehr schöne Geste, danke dafür, denn wir erreichen damit die 100 Euro-Marke. Dann kommt auch schon Albrecht ins Ziel. Zu recht stolz, denn er wollte eigentlich aus dem Rennen aussteigen, hat dann aber ebenfalls die fehlenden Kilometer noch aus seinem GPS-Handgelenk geschüttelt.
Der Abend in St. Niklaus ist nicht so gemütlich und gesellig wie im Vorjahr. Torsten und seine perfekte Campingausstattung, die er zu solchen Gelegenheiten aus dem IRONMAN-BMW zaubert, fehlt mir sehr. Überraschenderweise viel Schlafplatz zwischen den Bierbänken bietet uns das geräumige, offizielle VIP-Zelt mit benachbarter Dixi-Anlage, welches wir zu Dritt für uns alleine in Beschlag nehmen. Sehr komfortabel, jedenfalls solange meine Unterlage die Luft gehalten hatte. Kurios, denn es gibt gleich zwei Weckdienste: Zuverlässig durch die gesamte Nacht, christlich viertelstündlich, schallt es analog aus dem Kirchturm. Ein freundlicherer Service überrascht uns um 6 Uhr. Mit großer Rücksichtnahme auf unsere Nachtruhe wird das VIP-Catering vorbereitet. Der Morgen entwickelt sich. Das abwechslungsreiche Frühstück auf der Terrasse eines kleinen Hotels neben der Schule in St. Niklaus versöhnt mich mit den Unbilden der Nacht. Schnelle und freundliche Mitarbeiterinnen erfüllen uns jeden Wunsch, obwohl es hier an diesem einem Morgen im Jahr richtig brummt. Ramona, Remo und Jürgen sind heute morgen eingetroffen und gesellen sich dazu. Auch die Marathon-Chefin Andrea schaut vorbei und begrüßt uns. Jetzt heißt es noch genügend Sonnencreme unterzubringen und die Taschen auf den Riffelberg zu schicken. Das ist bei meiner 16. Teilnahme aber kein Grund mehr zur Aufregung, denn alles im Startbereich ist gewohnt effizient organisiert. Dann starten wir auch schon,verlieren uns aber schnell, denn jeder hat seine eigene Rennstrategie. Ich freue mich über ein Wiedersehen mit Dora aus Bern und habe es nicht sonderlich eilig. Albrecht treffe ich auf dem Anstieg von Zermatt zur Sunnegga, Jürgen einige Kilometer später. Gunter, ein freundlicher Zeitgenosse, zeigt sich sehr interessiert am Afrika-Marathon Geschehen. Ich habe viel zu erzählen und die Kilometer vergehen kurzweilig. Jenseits der Station Sunnegga staut es sich ordentlich, weil einige Läufer auf dem einspurigen Trail scheinbar Angst vor Steinen haben. Dann wird es sportlich und mein Lieblings-Streckenabschnitt bis zur Riffelalp ist schnell absolviert. Die erste Linkskurve beim Verlassen der Riffelalp ist die „Jetzt geht’s los“-Kurve am Fuß der Rampe. Viele Läufer und Läuferinnen hassen diesen drögen Anstieg parallel zur Bahn. Ich finde hier meinen Rhythmus und treffe Ricarda und Jens. Jens begrüßt mich traditionell mit einem „Du bist auch überall wo es wehtut...“. Schmerzen hat eine amerikanische Marathonläuferin an der gemeinen Steigung unterhalb der Liftstation kurz vor ihrem Ziel. Oh, die tut mir leid mit ihren Cramps. Ich versuche, sie zu stützen. Zum Glück kümmern sich bald Leute von der Sanität. Auf dem Weg zum Gornergrat liegt ein Läufer auf dem Weg und kann nicht aufstehen: Wadenkrämpfe. Mit gemeinsamer Anstrengung bringen wir ihn wieder auf die Beine. Das wird noch ein hartes Stück für ihn, denn die letzten 400 Höhenmeter bieten richtig gemeine Anstiege. Dort oben anzukommen ist immer wieder ein sehr emotionaler Moment. Das MDM-Zermatt Doppelabenteuer ist gemeistert und Ramona, Remo und Hennes haben sogar auf mich gewartet. Die Szenerie erscheint traumhaft-unwirklich, denn die Überlebenden laufen wie außerirdische Wesen alle in Golddecken gehüllt herum. Die strahlende Helligkeit vom Vortag ist einer dunklen Bewölkung gewichen. Auf 3100 Meter verwöhnt uns Ramona mit eine Runde frisch gezapftem Finisherbier. Genial. Auf Ramonas Initiative hin, werden wir von einem freien Journalisten interviewt. Bald trifft Albrecht ein und begleitet von ein paar Abstimmungsproblemen und Bahnstörungen erreichen wir doch noch das Duschzelt auf dem Riffelberg. Die letzte Prüfung des Tages ist die lange Fahrt in der Gornergratbahn runter nach Zermatt. Meinen Sitzplatz habe ich einer freundlichen älteren Dame zur Verfügung gestellt. Sie kam vom Kräutersammeln und ist unbeabsichtigt in den Trubel hinein geraten.

Der Abend ist gerettet, denn Albrecht erreicht das Weinfest auf dem Münsterplatz in Freiburg mit nur etwas mehr als einer Stunde Verspätung. In dem Zusammenhang wünsche ich mir die afrikanische Gelassenheit zurück und habe mir ein Briefing im Gedächtnis bewahrt, das ungewollt philosophisch wurde: „Die Langsamsten brauchen für eine Stunde 60 Minuten.“

 

Euer Christof

 

→ Teil 2: MDM 102 Mythischer Kandel

 

→ Teil 3: Eiger Ultra Trail E101 / MDM 103 Schwarzwaldbecher-Cup